Isabel Hempel berichtet in der FAZ über ihre Eindrücke von ihrer Reise

Khing Sun Mow
Khing Sun Mow
postoperativ mit einer vergrößernden Sehhilfe
postoperativ mit einer vergrößernden Sehhilfe

 

Ein kleiner Schnitt zum Augenlicht

 

KOU KOU – Burma, Karenstaat, das Krankenhaus im Dorf Kou Kou: Flach und schmucklos fügt sich der Kasernenbau in die von Papayabäumen dominierte Ebene ein. Seit zehn Jahren kommt Wolfgang Hasselkus viermal im Jahr hierher, um Augenkranke zu heilen.  Der deutsche Arzt erreicht das Gebiet der Karen ein, ein Landstrich wo der Bürgerkrieg zwischen Separatisten und den Truppen der burmesischen Militärs seit Jahrzehnten schwelt. Während sich in den Flüchtlingslagern auf thailändischer Seite die internationalen Hilfsorganisationen gegenseitig auf die Füße treten, ist der Deutsche der einzige ausländische Helfer, der sich noch hierhin wagt. Mit seinen 62 Jahren wirkt der Arzt wie ein in die Jahre gekommener Backpacker: Das graue Haar ist kurz geschoren, das T-Shirt spannt am Bauch, Socken sitzen stramm in Trekkingsandalen. Statt des Rucksacks führt er einen zerschlissenen Koffer mit sich. Darin hunderte künstliche Linsen, Nahtmaterial und Desinfektionsmittel, die er am Zoll in Frankfurt und Bangkok vorbeigeschleust hat. Gut 150 Patienten wird er in Kou Kou innerhalb von zehn Tagen operieren. Die meisten leiden an Glaukom oder Katarakt, Grünem oder Grauem Star. Die 15-Jährige Khing Sun Mow aber hat eine besondere Augenerkrankung.

 

Ein Dunstgemisch aus Reis, Urin und tropischer Hitze hängt über den Krankenlagern. Khing Sun Mow liebt diesen Geruch. Er erinnert sie an ihren letzten Besuch hier im Krankenhaus von Kou Kou. Sie kam blind. Jetzt kann sie sehen. Zehn Prozent von dem, was ein gesunder Mensch sehen kann. In ihren Augen zittern stecknadelgroße Pupillen, Indiz für eine schwere Entzündung, die sie im Alter von drei Jahren gehabt hat.

Zehn Prozent, das bedeutet, sie sieht Farben und Formen. Verschwommen, mit dem linken Auge, seit Wolfgang Hasselkus es operiert hat. Jetzt will der Arzt aus dem bayerischen Rödental auch das rechte Auge behandeln. Deswegen ist das Mädchen zum zweiten Mal nach Kou Kou gekommen. Hinter ihr liegen hundert Meilen auf der Ladefläche eines Taxi-Pickup’s. Eingezwängt zwischen ihrem Großvater, ihrer alten Tante und zwanzig anderen Augenkranken ging es in der Nacht über unwegsames Gelände, vorbei an Maisfeldern, Teakholzwäldern und dutzenden Militärstützpunkten.

 

Erst im Morgengrauen erreichte der Transporter die staubige Auffahrt zum Hospital. „In ein paar Tagen kann ich dich operieren“, erklärt Wolfgang Hasselkus beim ersten Treffen. Wie alle im Dorf ruft das Mädchen den Arzt bei einem Spitznamen, den die Karen erdacht haben, um sich bei dem europäischen Namensungetüm nicht ständig zu verhaspeln: „Ich danke dir Doktor Who“, sagt sie leise aber bestimmt, „wenn ich sehen kann, werde ich lesen lernen.“

 

Bis zur Operation nimmt eine Verwandte die Patientin und ihre Begleiter in ihrem Haus auf. Der fensterlose Teakholzbau schützt vor den Regenfällen, die zwischen Mai und September über das tropische Land hereinbrechen. Dürre Hühnchen scharren im Garten. In der heißfeuchten Luft schwirren Moskitos.

 

Das Dorf Kou Kou ist der Erfolg eines mit schwerem Kaliber bewachten Friedens. An

Checkpoints kontrollieren Soldaten die Papiere der Passierenden. Einst gehörten sie zur

Rebellenarmee der Karen und kämpften für die Unabhängigkeit von den Machthabern in

Rangoon. Doch in Kou Kou haben sie die Waffen nieder gelegt. Gut zehn Jahre ist das her. Es entstand die Siedlung mit Häusern aus Tropenholz und Stein, die staubige Hauptstraße, der Bolzplatz, ein buddhistisches Kloster, das Krankenhaus. Aus ächzenden Lautsprechern tönt die Ansage des Dorfsprechers. Erst in der tonalen Sprache der Karen, dann in burmesisch. Die Bewohner lauschen seinen Worten. Wie vor vier Wochen, als er verkündete, wann der deutsche Arzt wieder kommen wird. Ein Onkel hat die Nachricht bis zu Khing Sun Mow getragen. Auch die Militärs verbreiten die Botschaft lange bevor der Arzt in Deutschland ins Flugzeug steigt. Per Walky Talky senden sie auf einer Frequenz, die auch die Rebellen abhören. So trägt sich die Kunde bis in die abgelegenen Hütten der Dschungelbewohner. Viele machen sich in der Hoffnung auf Hilfe auf den Weg nach Kou Kou.

 

Eine Fliege hat sich in den Operations-Saal, den einzigen weiß gekachelten Raum des

Krankenhauses, verirrt. Eine Karen in Schlappen und T-Shirt jagt das Insekt, damit es sich nicht auf den Bestecken nieder lässt. Khing Sun Mow liegt auf dem OP-Tisch und hat die Hände zur Meditation gefaltet. Tagelang hat sich das Mädchen in buddhistische Gebete vertieft, um sich von dunklen Gedanken abzulenken an deren Ende ein Satz steht: „Ich bin blind, ich bin nichts wert.“ Mit ihrer Sehbehinderung ist sie eine Außenseiterin in Burma, einem Land in dem sich nur die Angehörigen der Oberschicht eine Operation wie diese leisten können. Hier gibt es weder Blindenschulen noch Förderprogramme für Menschen in ihrer Situation. Wolfgang Hasselkus hat auf einer 15 Jahre zurück liegenden Reise durch Asien beschlossen, Menschen wie Khing Sun Mow zu helfen. „Es ist die Freude der Armen, wieder sehen zu können“, sagt der 62-Jährige. „Das Elend der Blinden potenziert sich in diesem Krieg.“

 

Die 15-Jährige ist seine erste Patientin an diesem Tag. Noch liegt die Temperatur bei

erträglichen 25 Grad, die Stromversorgung über den Generator funktioniert. Hasselkus setzt den Schnitt. Haarscharf am Rand der Iris. Vor acht Jahren hat der Allgemeinmediziner in Afrika gelernt, wie man einen Blinden sehend macht. Nicht mehr als eine halbe Stunde dauert das. Mit einer zarten Pinzette erweitert er das verengte Pupillenloch und schafft damit ein Fenster zur sichtbaren Welt. Durch die vergrößerte Öffnung wird mehr Licht in Khing Sun Mows Auge einfallen. Eine Vorderkammerlinse wird zum Abschluss eingelegt.

 

Kurz nach der Operation: Khing Sun Mow schläft. Ihre Tante hat eine Plastiktüte an ein

Bambusstäbchen geknotet und vertreibt damit Insekten, die über dem Lager des Mädchens kreisen. Ein Pfleger in Uniform erklärt der alten Frau, dass sie nicht mit ihrem Taschentuch an Khing Sun Mows Auge wischen darf. Die Wunde muss steril bleiben. Deswegen verdeckt ein Wattepolster das Auge. „Ich werde den Verband stetig wechseln“, beruhigt der junge Soldat. Das Hospital ist überfüllt. Alle 60 Betten sind belegt. Wer keine der harten Pritschen mehr ergattern konnte, hat sich wie Khing Sun Mow ein Lager auf dem blanken Betonboden errichtet, wo einzig eine Strohmatte als Unterlage dient. Angehörige hocken neben den Kranken. Sie haben Gefäße mit Reis und Curry, Coca Cola-Flaschen und Thermoskannen mitgebracht. Die meisten von ihnen verweilen auch über Nacht, um ihre Verwandten zu pflegen. Trotzdem herrscht stetig bedächtige Ruhe. Nur aus der Ferne tönt heisere Popmusik vom tarngrün getünchten Militärausguck herüber. Die europäischen Charts von burmesischen Stars gesungen. Für das Mädchen beginnt eine unruhige Zeit des Wartens und Hoffens.

 

Zweimal am Tag kontrolliert Doktor Hasselkus ihr Befinden. Nur langsam heilen die Wunden der Operation. Khing Sun Mow ist erschöpft und ängstlich. Oft klagt sie über Schmerzen. Wenn sie nicht schläft, lässt sie schweigend eine hölzerne Perlenkette durch ihre Hände laufen und betet. Khing San Mow wäscht sich am Brunnen des Krankenhauses. Sie hat ihren Sarong bis zu den Schultern hochgezogen und zieht umständlich das weiße Hemdchen darunter aus. Dann schöpft sie mit einem Plastiknapf Wasser aus dem Bottich und lässt es übers Gesicht spritzen. Sie blinzelt der Sonne entgegen und lächelt. Tropfen glitzern auf ihrer Haut.

 

Als Khing Sun Mow das Krankenhaus vor einem Jahr zum ersten Mal betrat, war sie noch ein Kind. Unscheinbar und hilflos hing sie an der Hand ihrer Tante. Jetzt geht sie aufrecht wie eine junge Frau, das dicke schwarze Haar zu Zöpfen gebunden, das breite, chinesisch anmutende Gesicht mit Tamarindepulver bemalt, wie es Brauch bei den Karenfrauen ist. Mit ihrer Zuversicht besser sehen zu können, ist auch ihr Selbstbewusstsein gewachsen. Sie hat eine Freundin gefunden, ein zwei Jahre älteres Mädchen, das wie sie an einer Augenkrankheit leidet. Oft sitzen die beiden auf einer kleinen Mauer vorm Hospital, trinken Cola aus Dosen und tuscheln.

 

Als Wolfgang Hasselkus seinen Koffer auf die Ladefläche des Jeeps hievt, der ihn zurück

zum Grenzfluss bringen wird, ist Khing Sun Mows Auge noch nicht verheilt. „Gedulde dich

noch ein paar Tage, dann wird man den Verband abnehmen können“, verspricht Hasselkus dem Mädchen zum Abschied. Sie packt seine Hand wie unter Gangmitgliedern: „Doktor Who, ich bin sehr froh dich getroffen zu haben“, sagt sie.

 

Vier Monate nach der Operation reiste Wolfgang Hasselkus wieder nach Kou Kou und hat Khing Sun Mow zur Visite getroffen. Mit einer sehr starken Brille kann sie nun Buchstaben erkennen.

ISABEL HEMPEL (Fotos und Text)